karolingische Kunst: Westwerk und Doppelchor

karolingische Kunst: Westwerk und Doppelchor
karolingische Kunst: Westwerk und Doppelchor
 
Als Einhard, der Ratgeber Karls des Großen am Aachener Hof, gegen 820 ein silbernes Kreuz für seine Abteikirche Sankt Servatius in Maastricht stiftete, ließ er als Standfuß dieses Kreuzes einen kleinen silbernen Triumphbogen anfertigen - eine Arbeit, die so sehr an der Antike orientiert war wie kaum eine andere des frühen Mittelalters, einer Zeit, die uns als finster und barbarisch gilt in den langen Jahrhunderten zwischen dem Untergang der Antike und den neuen Schöpfungen der Gotik.
 
Dieser unvermittelte Rückgriff auf antike Formen muss umso mehr verwundern, als die vorangegangene fränkische Kunst unter den Merowingerkönigen wegen ihrer Randlage im Norden Europas nie eine so weit reichende Symbiose mit der spätantiken mediterranen Kultur eingegangen war wie die der Ostgoten, Wandalen, Westgoten und Langobarden. Die Goldschmiedekunst war ornamentbetont geblieben und kaum einmal zu spärlichen figürlichen Darstellungen gelangt, die Buchmalerei hatte durch irische und angelsächsische Einflüsse wenigstens auf Umwegen eine gewisse antike Tradition aufgenommen, die Baukunst war mehr und mehr zu einer Zweckarchitektur geraten. Selbst die wenigen Bauten von einiger historischer Bedeutung - etwa die Abteikirche Pirmins auf der Reichenau (724) oder die des Utrechter Bischofs und Friesenmissionars Willibrord in Echternach (gegen 705) - zeigen einfache Formen, minderen baulichen Aufwand und zurückgenommenen Dekor; trotz allen Anspruchs sind es einfache Saalkirchen mit Rechteckchor - ein Typus, wie er in späteren Jahrhunderten für dörfliche Pfarrkirchen Verwendung fand.
 
Vor diesem Hintergrund eines Niedergangs der Künste seit der Mitte des 7. Jahrhunderts wird die enorme Leistung deutlich, welche die Franken nach der Übernahme der Königsgewalt durch das Geschlecht der Karolinger im Jahre 751 vollbrachten. Zwar hatten schon die Angelsachsen Bonifatius und Willibald mit ihren Gründungen Fulda (744) und Eichstätt (740) dem künstlerisch bescheidenen spätmerowingischen Kirchenbau vergleichsweise fulminante Leistungen entgegengesetzt: in Fulda eine stattliche Basilika mit Ostapsis, in Eichstätt einen riesigen Saal, von dem die schriftliche Überlieferung behauptet, er sei in Form eines griechischen Kreuzes gestaltet gewesen. Einen wirklichen Vorstoß in künstlerisches Neuland kann man indes - zunächst in der Architektur - erst für die Regierungszeit Karls des Großen greifen. Als ein erster Markstein darf der Neubau der Abteikirche Saint-Denis bei Paris (769 bis 775) gelten. Karl der Große soll ihn selbst veranlasst haben, lag hier doch sein Vater Pippin III. bestattet und hatte auch Karl diesen Ort zunächst zu seiner Grabstätte bestimmt. Diese Basilika führte zwei wichtige Neuerungen in die fränkische Baukunst ein: zum einen das Querhaus, das nach dem Vorbild von Konstantins Petersbasilika zu Rom die Apsis durch einen Quersaal vom Langhaus sonderte, zum anderen die Ringkrypta, welche erstmals Papst Gregor der Große in Alt-Sankt Peter als unterirdische Stollenanlage unter dem Chorboden der Apsis für die zum Petrusgrab Pilgernden hatte einbauen lassen. Querhaus und Ringkrypta waren also römische Bauideen gewesen, die man beide in Saint-Denis in den frühkarolingischen Neubau integrierte und damit ein Baukonzept schuf, welches für den christlichen Kirchenbau des Frankenreiches neue Maßstäbe setzte.
 
An Eigenständigem brachte die karolingische Baukunst das Westwerk hervor, den mächtigen Baukomplex am Westende besonders anspruchsvoller Kathedral-, Abtei- und Stiftskirchen: Über einer gewölbten Eingangshalle zu ebener Erde lag ein Obergeschoss, das sich durch östliche Arkaden zur Basilika hin öffnete und auf den drei anderen Seiten von Emporen umzogen war, die als drittes Geschoss diesen quadratischen Mittelraum im Sinne eines Zentralraums umgriffen. Die Treppentürme, die die drei Ebenen miteinander verbanden, schlossen vermutlich mit eigenen kleinen Dächern ab, sodass sie gemeinsam mit dem großen Mitteldach des Zentralraumes eine mächtige Dreiturmgruppe bildeten. Der Bautypus des Westwerks entwickelte sich offenbar aus bescheideneren Eingangsanlagen des merowingischen Kirchenbaus, ein- und dreizelligen Querbauten, welche dem Westportal vorgebaut waren und häufig ein Oberschoss mit einer einem Erzengel geweihten Kapelle trugen.
 
Westwerke begegnen uns in Baubeschreibungen seit der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts. In Corvey hat sich eine solche Anlage noch weitgehend erhalten, sogar mit Resten einer Bemalung und einer Ausgestaltung mit Stuckfiguren über den Emporenarkaden. In Centula, wo eine solche Anlage zwischen 790 und 799 errichtet worden war, erhielt sich ein Text mit Anweisungen für die Festtagsliturgie dieser Abtei. Aus ihm geht hervor, dass das Westwerk als zweiter Hauptchor der Abteikirche in hervorgehobener Weise liturgisch genutzt wurde: Während im Ostchor am Grabe des heiligen Richarius die tägliche Messe und die Tagesoffizien der Mönche stattfanden, blieb das Westwerk mit einem Salvator-Altar im Obergeschoss den Konventsmessen an den großen Herrenfesten (Palmsonntag, Ostern, Weihnachten und Christi Himmelfahrt) sowie an den Tagen der Bittprozessionen vorbehalten. Diese Messen fanden - auch in Gegenwart von Laien - im Oberschoss des Westwerks statt, wobei auf den Emporen Knabenchöre sangen; Laien, welche im Obergeschoss keinen Platz gefunden hatten, lauschten der Messe im Erdgeschoss des Westwerks und nahmen hier anschließend die Kommunion von den die Treppen herabsteigenden Priestern in Empfang.
 
Neben das Westwerk trat einige Jahre später am Ende des 8. Jahrhunderts eine völlig neuartige, alternative Gestaltung der Kirchenwestseite: Als zweites liturgisches Zentrum wurde dem Langhaus einiger bereits bestehender, nach Osten ausgerichteter Kirchen ein zusätzliches Westquerhaus mit Westchor angefügt; da ihr bisheriger Ostchor aber beibehalten wurde, entstand hierdurch eine »Doppelchoranlage«. Der Laieneingang zur Kirche konnte nun allerdings nicht mehr axial von Westen her erfolgen, sondern musste um die neue Westapsis herum in die Seitenschiffe oder gar an die Flanke des Langhauses verlegt werden, wie es später bei Sankt Michael in Hildesheim der Fall war. Die traditonellen Portalvorhöfe mit ihren Wandelgängen wurden jetzt konzentrisch um die Westapsis geführt, wie es der Klosterplan von Sankt Gallen eindrucksvoll zeigt, aber auch die Grabungen unter dem Dom in Köln nachgewiesen haben.
 
Im Westchor stand - nach dem Vorbild der gewesteten Petersbasilika in Rom - zumeist ein Petrusaltar. Da auch hier in Richtung Osten zelebriert werden musste, stand der Priester dort allerdings hinter dem Altar und wandte sich über diesen hinweg der Gemeinde zu - ganz anders als in den üblicherweise geosteten fränkischen Kirchen, in denen er aufgrund der Lage des Altars in einem Ostchor vor dem Altar stand und somit der Gemeinde den Rücken zukehrte. Die Anlage eines Westchors bedeutete somit nicht nur eine Imitation der römischen Chorrichtung in architektonischer Hinsicht, sondern auch eine Nachahmung der liturgischen Nutzungsmöglichkeit nach römischen Vorbild. Daher stand das Aufkommen der Westapsis wohl im Zusammenhang mit der in kirchen- und staatspolitischer Hinsicht wegweisenden Hinwendung der Karolinger zum Papsttum, als in Anbahnung der bevorstehenden Kaiserkrönung des Jahres 800. Die Idee eines Westwerks hingegen war mit der Salvator-Liturgie unmittelbar auf Gott ausgerichtet und »fränkisch« geprägt, reichskirchlichm nämlich unabhängig von Rom. In diesem Spannungsfeld zwischen Unabhängigkeit und Rombewunderung bewegte sich hinfort die kirchliche Kunst des Frankenreichs: Wenn um 800 einerseits das Westwerk von Saint-Riquier errichtet wurde, andererseits das neue Westquerhaus mit Westapsis von Fulda, wo man Bonifatius als »Apostel der Deutschen« verehrte, offenbart dies möglicherweise die unterschiedlichen Präferenzen ihrer Erbauer hinsichtlich klösterlicher Traditionen, konventualem Bezugswunsch und äbtlicher Entscheidung.
 
Wie schwer man sich mitunter mit einem Urteil für oder gegen einen Westchor tat, beleuchtet der einzigartige Sankt Galler Klosterplan, den die Reichenauer Mönche gegen 830 für ihre Nachbarn in Sankt Gallen anfertigten, um diesen eine Anregung für ihren geplanten Klosterneubau zu geben. Da seine Tuschzeichnung fast keine Rasuren zeigt, bestand offenbar beträchtliche Sicherheit in der Konzeption einer solchen komplexen Anlage. Nur am Westabschluss der Abteikirche laufen zahlreiche Blindrillen und Rasuren durcheinander: Die Verfasser diskutierten offenbar heftig, wie dieser denn auszusehen habe. Nachdem man zunächst ein kurzes Langhaus mit westlichem Querhaus und Westapsis plante, verlängerte man das Langhaus um zwei Arkadenspannen und schloss es - unter Aufgabe des Westquerhauses - unmittelbar mit einer Westapsis ab. Die zwischen 830 und 835 errichtete neue Kirche in Sankt Gallen verzichtete schließlich völlig auf einen Westchor.
 
Die Idee des Westchors setzte sich im Verlauf des 9. Jahrhunderts nicht durch. Das Westwerk hingegen sollte sich auch nach dem Tod Karls des Großen Tod im Jahre 814 behaupten, als dessen Sohn und Nachfolger Ludwig der Fromme wieder eine stärkere Unabhängigkeit vom Papst in Rom verfolgte. Doch residierte er weiterhin in der Aachener Pfalz, die sein Vater Karl in den Jahren um 790 mit Blick auf seine Erhebung zu einem festen Regierungssitz zum Kaiser ausgebaut hatte, mit einer fürwahr riesigen Aula regia als Thronsaal, mit lokal installierten Behörden, mit reichsweit organisierter Verwaltung und mit einer neuartigen Pfalzkapelle, welche jeglichen Rahmen des bisher Dagewesenen sprengte. Hier wählte er einerseits für seine Aula regia das gerade in Bau befindliche Triklinium Papst Leos III. im Lateranspalast als Vorbild. Als Pfalzkapelle bevorzugte er andererseits einen Zentralbau mit umlaufenden Emporen - einen Typus, den es weder im Frankenreich noch im päpstlichen Rom gab, der sich vielmehr an der kaiserlichen Palastkirche in Konstantinopel sowie an San Vitale in Ravenna orientierte, der Hauptstadt des von Karl so bewunderten Westgotenkönigs Theoderich. Antiken Glanz sollten seinem neuen Herrschaftszentrum auch zahlreiche marmorne Säulen verleihen, die eigens über die Alpen nach Aachen transportiert wurden; darüber hinaus stellte man fehlende Kapitelle, das große (im 18. Jahrhundert zerstörte) Kuppelmosaik, die kostbaren bronzenen Emporengitter und die riesigen bronzenen Türflügel neu her.
 
Diese Kunstwerke und Bauten erregten noch über Jahrhunderte hinweg Aufsehen; sie gingen einher mit einem künstlerischen Neubeginn in der Buchmalerei, in der Elfenbein- und in der Goldschmiedekunst. Zwar konnte man in der Aachener Hofschule Karls des Großen nicht sogleich das Niveau der gräkoitalischen Werkstatt erreichen, die um das Jahr 800 das »Krönungsevangeliar« hinterlassen hat. Doch fränkischen Miniaturisten gelang es in erstaunlichem Maße, an diese Muster anzuknüpfen. Und die Schriftreform mit der Wiederbelebung der antiken Majuskel und der Entwicklung der karolingischen Minuskel wurde die Grundlage für die noch heute gebräuchlichen Antiqua-Schriften. In diesem Wirkungsfeld muss auch Einhards eingangs erwähnter »Triumphbogen« entstanden sein - einer von vielen Beiträgen zur Wiedergewinnung der klassischen Antike in der »karolingischen Renaissance«.
 
Prof. Dr. Werner Jacobsen
 
 
Braunfels, Wolfgang: Die Welt der Karolinger und ihre Kunst. München 1968.

Universal-Lexikon. 2012.

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